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Respekt und Toleranz in Corona-Zeiten

Schon mit der Muttermilch habe ich aufgenommen, dass Menschen oft ganz unterschiedlich denken … und damals hab ich natürlich noch nicht verstanden, wie das sein kann. Wieso war die Meinung meiner Schwester so ganz anders meine, als die meiner Mutter oder die meines Vaters? Schon damals habe ich gelernt, zu hinterfragen, ob das, was ich denke und glaube, wirklich richtig ist. Ich habe erlebt, dass es zu manchen Dingen mehr als eine Meinung gibt und mehr Sichtweisen, als man glaubt. Und schon in der Schule habe ich begonnen, mich mit Psychologie und Hintergründen der Persönlichkeitsentwicklung zu beschäftigen, weil ich verstehen wollte, warum das so ist.

Meine Ausbildung zur Hotelkauffrau machte ich im Hotel Intercontinental in Hamburg an der Aussenalster. Wir waren über 300 Kollegen aus mehr als 100 Ländern. Menschen aus aller Herren Länder, mit unterschiedlichster Glaubensrichtung und familiärer Herkunft, oft sehr merkwürdigem Verhalten und teilweise skurrilen Ritualen.  Dank Toleranz und Offenheit funktionierte dies System großartig – alle waren Teil des Großen Ganzen und lernten und arbeiteten mit- und voneinander. Und es machte unglaublich viel Spaß. Ich lernte, was Toleranz, Respekt und Miteinander bewegen können. Das war eine erfüllte, großartige Zeit.

Später – wenn meine Kinder sich stritten –  war ich immer wieder überrascht, wie unterschiedlich die Sichtweisen der Streithähne waren.  Einzeln gesehen, waren es völlig verschiedene Ansichten der gleichen Situation, von denen sie mir erzählten. Wer von beiden hatte Recht? Erzählten Sie wirklich vom gleichen Ereignis? Eine weise Entscheidung zu fällen, war oft schwierig.
Genau so geht es mir in der Paarberatung, wenn die Schilderungen von Problemen der Paare oft so gar nicht zusammenzupassen scheinen.

Und jetzt – in diesen Corona-Zeiten – ist es auch so.
Es gibt unglaublich viele verschiedene Standpunkte, Meinungen und Argumente über den Virus, die Beschränkungen und die Rechte der Bürger.

Jeder versucht in dieser so besonderen, neuartigen Zeit Information, Orientierung und Sicherheit zu finden, mit seinen Ängsten umzugehen und Lösungen zu finden.
Jeder von uns hat in seinem Leben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, hat ganz persönliche Ängste, Schwachpunkte und Werte und ist bemüht, nun zurechtzukommen.
Bei manchen liegen die Nerven blank, bei anderen geht’s sogar ganz existenziell ums Überleben.
Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen und hat mit ganz außergewöhnlichen, noch nie dagewesenen Herausforderungen zu kämpfen. Und jeder reagiert auf seine eigene, persönliche Weise, basierend auf früheren Erfahrungen und damals erfolgreichen Lösungsstrategien.

Zunehmend schildern mir Klienten in den letzten Tagen, dass von dem anfänglichen neuen Miteinander („wir alle gemeinsam gegen Corona“) und der spontanen Hilfsbereitschaft nur noch wenig übrig geblieben ist. Ich selbst beobachte eine neue Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Rechthaberei.  Der Umgang mit der Krise ruft Verhaltensweisen hervor, die mich manchmal den Kopf schütteln lassen. Zum Beispiel der ältere Herr, der sich bei uns im Einkaufszentrum als selbsternannter Sheriff aufspielt und anderen Besuchern Kommandos zubellt wie „Abstand halten!“ oder „In die Armbeuge husten!“ – er hat eine neue Aufgabe gefunden und fühlt sich offensichtlich sehr wohl dabei.
Es gibt Menschen, die glauben, alles verstanden und alles richtig einschätzen zu können, die Andere missionieren oder belehren und alles andere ablehnen, was sie nicht auf dem eigenen Schirm haben. Wer ihre Meinung in Frage stellt, wird als Verschwörungstheoretiker, Rechtsradikaler oder Dummkopf hingestellt. Diese Menschen gibt es auf allen Positionierungen in dieser Situation. Corona trennt. Nicht nur in Beziehungen und in Familien, sondern bundesweit. Ich erfahre über meine Klienten aus anderen Ländern, dass es dort ebenso ist.

Mich interessiert es nicht, wer wo steht in dieser Krise.
Mir geht es nicht darum, wer was glaubt. Mir geht es darum, dass man tolerant damit umgeht.

Eine indianische Weisheit besagt: „Bevor du über mich und meine Ansichten urteilst, zieh meine Schuhe an und geh meinen Weg.“

Mir ist es völlig unverständlich, wie man andere für ihre persönlichen Erfahrungen, Werte oder Gedanken abwerten kann. Ich verstehe natürlich, dass es oft etwas mit der ganz eigenen Angst zu tun hat, mit dem Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit … oder, oder, oder … Die Gründe hierfür sind vielfältig und wiederum in der eigenen Lebensgeschichte oder den Lebensumständen begründet. Aus meiner Sicht darf sich niemand über einen anderen Menschen stellen, über ihn urteilen oder ihn belehren. Jeder ist aus gutem Grund so, wie er ist. Und vielleicht ist er sogar näher an der Wahrheit als man selbst? Wer weiß das schon …?!

Und ich selbst?

Vor allem der Einfluss der Medien ist derzeit gewaltig und die Informationen, die meine  Klienten mir bringen, sind sehr emotional. Am meisten Sorgen bereiten mir tatsächlich die ganzen Konflikte und Folgeerscheinungen, die sich durch Corona und die damit verbundenen Umstände für die Menschen entwickeln und mit denen ich täglich in meiner Praxis zu tun habe.

Auch ich habe meine eigene Geschichte, meine Sicht der Dinge und meine eigene Vorgehensweise, wenn es um lösungsorientierte Problembewältigung geht. Dafür hinterfrage und recherchiere ich und schaue in unterschiedliche Quellen. Ich möchte mich informieren. Und auch unter Wissenschaftlern klaffen die Meinungen auseinander. Wenn die schon so viel aus ihrem Fachgebiet wissen und trotzdem unterschiedlicher Meinung sind, frage ich mich: wo ist dann die Wahrheit? Vielleicht liegt sie irgendwo zwischen den ganzen Fakten und Fake News.
Mein Gefühl dazu ist: Je mehr ich lese und recherchiere, desto weniger weiß ich. Gibt es denn hier überhaupt ein Richtig oder Falsch?

Ich versuche, inmitten all dieser Informationen meine innere Balance zu halten und mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Das ist wirklich nicht einfach und fordert mich täglich aufs Neue. Ich sorge gut für mich und behalte den Fokus auf dem Positiven und den Möglichkeiten, die es gerade für mich gibt.

 

Ich weiß vor allem: in dieser Zeit braucht es

  • Achtsamkeit – für sich selbst und auch für die anderen.

  • Respekt für die Lebensgeschichten und Erfahrungen der anderen.

  • Toleranz für andere Meinungen und Überzeugungen

  • Bereitschaft, hinzuhören, zu verstehen und auch stehen.zu.lassen.

  • Rücksicht auf Werte und Bedürfnisse des Anderen.

  • das Wissen, dass Jeder für sich stimmig und völlig in Ordnung ist – auch,  wenn ich die Gründe nicht kenne und ihn nicht verstehe

Und auch speziell für die Paarbeziehung gibt es dazu ein paar wesentliche Hinweise hier

Vielleicht können wir alle ein wenig davon in diese Welt bringen. Ich wünsche es mir sehr.